Die technische überholt die menschliche Entwicklung

Was passiert mit unserer Demokratie, wenn Algorithmen bestimmen, was wir sehen und KünstlicheIntelligenz ganze Nachrichtenportale erschafft? Prof. Dr. Thomas Merz,Prorektor und Dozent an der PH Kreuzlingen, spricht im Interview über digitaleChancen, gefährliche «Bubbles» und warum gerade die Schule zur Verteidigung derDemokratie beitragen muss. Ein Gespräch über Verantwortung, Hoffnung und warum die Zukunft in den Händen der Jugend liegt.

Die Demokratie hat sich im Vergleich zu früher, durch Handys und KI, ziemlich verändert. Können Sie diese Veränderung beschreiben?

Früher bekam man die Informationen über Zeitung, Radio und Fernsehen. Damit konnte man einenGrossteil der Leute erreichen. Die Redaktionen hatten somit die«Gatekeeper-Funktion» inne. Das heisst, dass sie aus der Fülle derInformationen die relevantesten auswählen und sie ans Publikum bringen. Der Nachteil: Ohne Zugang zu denMedien hatte man keinen Zugang zu den Informationen und auch nicht zurMöglichkeit, eigene Anliegen zu verbreiten. Im Kontrast stehen die heutigenSozialen Medien. Sie sind eine grosse Chance, da jede Person Zugriff hat und selbst publizieren kann. In der Konsequenz ist man nicht mehr abhängig vonRedaktionen. Doch es bringt auch neue Probleme mit sich. Wo früher dieRedaktionen die «Gatekeeper-Funktion» übernahmen, muss man heute selbst selektionieren. Man muss selber entscheiden, was relevant ist und was nicht.Dies führt oftmals zu einer Überforderung rein aus zeitlichen Gründen. Dazukommen die gezielte Verbreitung von Falschnachrichten über Soziale Medien. Inder heutigen Zeit ist es umso wichtiger, sich für die Demokratie einzusetzen und sich zu informieren.

Wie sollteIhrer Meinung nach, die Schule mit dem Thema digitale Demokratie umgehen - und was kann die Lehrerbildung dabei leisten?

Ich habe beim Verfassen des Lehrplans 21 mitgewirkt und setzte mich stark für das Unterrichtsfach Medien und Informatik ein. Es ist wichtig, dass man Schüler*innen über den Umgang mit Medien aufklärt. Meiner Meinung nach sollte das Stimmrecht gesenkt werden. Es ist die Zukunft der Jugend. Ich selbst hole mir auch bei vielen Themen den Rat meiner Kinder. Zum Beispiel habe ich meineKinder gefragt, was sie zur 13. AHV denken. Für mich persönlich wäre es ja eingrosser Vorteil, jedoch wäre es für die jungen Leute einen grossen Nachteil, weshalb ich dagegen gestimmt habe.

Wie geht man im Unterricht mit Meinungsvielfalt oder politischen Konflikten um, ohne dabei neutralitätsverletzend zu sein?

Wichtig dabei ist, dass man zuerst das Thema rein wissenschaftlich klärt. Wie funktioniert es, und was ist dabei nötig. Bevor ich in meinen Unterrichtsstunden meine persönliche Meinung in das Spiel bringe, kläre ich zuerst alle wissenschaftlichen Fakten mit der Klasse ab. Dass es politisch unterschiedlicheMeinungen gibt, ist völlig normal. Es ist wichtig, dass man sich gegenseitig akzeptiert und toleriert.

Glauben Sie, dass Digitalisierung positive oder negative Auswirkungen haben wird?

Die Hoffnung ist auf jeden Fall da, dass es positive Auswirkungen hat. Es ist wichtig, dass wir die Möglichkeiten sinnvoll nutzen. Ich schätze die Sozialen Medien sehr und sehe sie als eine grosse Chance an. Es wird sich mit der Zeit aber noch zeigen, wie positiv diese Medien dann wirklich sind. Momentan verlieren wir durch Soziale Medien mehr das Menschliche. Ein aktuelles Beispiel dafür ist derAntisemitismus, der auf den Plattformen wieder aufflammt.

Welche Gefahren oder Risiken sehen Sie durch Soziale Medien? Oder welcheChancen sehen Sie darin?

Soziale Medien bringen Chancen sowie Risiken mit sich. Eine grosse Chance ist derAustausch mit anderen Menschen. Auf der anderen Seite stehen Anonymität,Algorithmen und die falsche Bildung. Durch Anonymität trauen sich Leute auf Online-Plattformen mehr. Des Weiteren sollten die Algorithmen transparent zugänglich sein. Menschen sollten in der Bildung mehr über das Thema Medien aufgeklärt werden.

Soziale Medien ermöglichen Microtargeting und den Einsatz von Bots in politischen Kampagnen. Wie bewerten Sie diese Entwicklungen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die demokratische Meinungsbildung?

Wichtig ist, dass Bürger*innen wissen dürfen, was passiert und von wem sie beeinflusst werden. In der heutigen Zeit können 20'000 Websites über Nacht mithilfe von KI generiert werden. Es wird also immer schwieriger zu unterscheiden, was echt und was mit KI entstanden ist. Das wird in Zukunft nicht einfacher werden. WirMenschen müssen also genauer hinsehen.  

Warum werden die Meinungen der User auf Soziale Medien immer extremer?

Durch die Sozialen Medien finden extreme Meinungen schneller Anklang. Wo man früher alleine stand, kann man sich heute einfach online mit gleichgesinnten Leuten verbinden. Dazu kommen die Algorithmen, welche emotionale Inhalte stärker verbreiten. Negative fesseln dabei mehr als positive. Die Algorithmen setzen den User sozusagen in eine«Bubble». Sie erkennen die Vorlieben des Benutzers und schlagen ihm nur Inhalte seines Interessensbereichs vor.      

Gab es Momente, in denen Sie selbst digitale Entwicklungen kritisch hinterfragt haben oder skeptisch waren?

Skeptisch würde ich nicht sagen. Ich finde, dass man immer beide Seiten betrachten muss.Mir bereitet nicht die technische Entwicklung Sorgen, sondern die menschliche. Meine grosse Sorge ist, dass die menschliche nicht mit der technischen Entwicklung mithalten kann. Unsere Ethik und unsere Verantwortung sind noch nicht so weit, wie sie eigentlich sein sollten.

DieTechnologie kann mit einem Hammer verglichen werden. Man kann viel Gutes machen, aber auch jemanden damit umbringen. Die Künstliche Intelligenz ist ein perfektes Beispiel.

Wie wird die Demokratie in der Zukunft aussehen und was erhoffen Sie sich davon?

Ich habe Respekt. Wird es uns gelingen die technologische Entwicklung auf klarer ethischer Basis zu nutzen? Werden wir die Technologie so nutzen, dass sie einzelnen Menschen und der Gesellschaft dienen wird? Meine Hoffnung liegt auf den jungen Menschen. Zu sehen, wie junge Leute positives Engagement haben, um diese Welt mitzugestalten. Das wird den Weg für die Zukunft bereiten.

Das Gespräche führten: Alexander Schaller (2mb), Lia Hutter (2ma), Mia Bischof (2mc) und Paul Kröni (2mb)

Prof. Dr. Thomas Merz ist aktuell Prorektor und Dozent für Medienpädagogik an der PH Kreuzlingen. Er hat als Primarschullehrer gestartet, ein Theologie- und Psychologiestudium angehängt, war im Kantonsrat für die CVP und hat Kommunikationswissenschaften und Journalistik studiert, später in Medienpädagogik promoviert. In seiner Freizeit betätigt er sich gerne sportlich und verbringt Zeit mit seinen drei erwachsenen Kindern.

Thomas Merz in der Mitte