"Der Krieg hat sehr viel verändert"



„Ich habe mich bis 2 Uhr in der Nacht für die Biologie Prüfung vorbereitet und dachte, dass dies sehr wichtig für mich wäre. Aber als der Krieg gestartet hat, habe ich verstanden, dass es einfach wichtig ist, Wasser zu haben, Lebensmittel zu haben, gute Leute neben mir zu haben.“ 
Dieses Zitat stammt aus unserem Interview mit Valentyn Nevmerzytskyi, einem Ukrainer, der jetzt hier an der Kantonsschule Frauenfeld Schüler ist. Er hat uns im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg einen Einblick in seine persönliche Geschichte gegeben. 

 
Stell dich bitte als Erstes kurz vor. 
Mein Name ist Valentyn, Valentyn Nevmerzytskyi und ich bin 16 Jahre alt. Ich wohne hier in Frauenfeld. 
 
Wo kommst du ursprünglich her? 
Ich komme aus Kiew, der Hauptstadt der Ukraine und ich habe da fast mein ganzes Leben lang gewohnt. Jeden Sommer war ich bei meinen Grosseltern. Die einen wohnen im Gebiet von Kiew und die anderen in Russland. Jeden Sommer habe ich sie besucht und wir haben da ein Haus.  
 
Wie sah dein Alltag aus, bevor der Krieg begonnen hat? 
Vor dem Krieg, als ich etwas kleiner war, hatte ich sehr viele Hobbys. Also Schwimmen, Kung-Fu, Tanzen und vieles anderes. Aber später bin ich ein wenig mehr in Richtung Wissenschaft gegangen und habe an einem deutschen Gymnasium gelernt. Später bin ich in ein Mathegymnasium gegangen. Da lernt man viel Mathe, Physik und Informatik.  
 
Wann hast du realisiert, dass jetzt Krieg herrscht? 
Ich habe die Tage vor dem 24. Februar 2022 noch sehr gut in Erinnerung. Ich hatte viele Hausaufgaben und musste mich für eine Prüfung über molekulare Biologie vorbereiten. Ich habe gelernt bis 2 Uhr nachts. Am nächsten Morgen bin ich aufgewacht und meine Mutter hat gesagt, dass in eine Stadt neben Kiew eine Rakete eingeschlagen ist, Krieg herrscht und wir nicht mehr in die Schule gehen müssen. Zuerst habe ich das einfach nicht verstanden und ich habe gesagt: „Wow, okay, ich muss die Biologieprüfung nicht schreiben.“ Aber dann habe ich verstanden: „Oh, das ist Krieg“. Das habe ich am ersten Tag verstanden.  
 
Wann habt ihr euch dazu entschieden zu flüchten und wann seid ihr tatsächlich gegangen? 
Wir haben uns nach fünf Tagen Krieg entschieden. Dann haben wir verstanden, dass wir gehen müssen, weil es vielleicht später keine Möglichkeit mehr geben wird zu flüchten. Wir sind aus Kiew zu dem Haus von einem Freund meines Vaters gefahren. Wir haben da ein paar Wochen gewohnt und später sind wir mit dem Auto nach Deutschland gefahren.  
 
Und von Deutschland seid ihr dann hier in die Schweiz gekommen? 
Ja, genau. Wir haben drei Monate in Deutschland gelebt. Mein Vater hat in der Ukraine in einer Schweizer Firma gearbeitet und er hat deshalb hier in der Schweiz Arbeit bekommen. Es ist super schön, dass er hier Geld verdienen kann.  
 
Wir haben ein Zitat aus dem Kriegstagebuch „Ihr wisst nicht, was Krieg ist“ von der Ukrainerin Yeva Skalietska: 
„Ich stand in der Warteschlange und hatte so grosse Angst. Es fielen mehr Bomben als gestern, als wir Wasser holen waren. Die Leute haben sich wohl dran gewöhnt, sie standen trotzdem weiter stundenlang Schlange. Und schliesslich muss man ja etwas essen. Aber ich bin noch nicht so weit, dass ich für ein Stück Brot mein Leben riskiere…“ 
Hattet ihr an einem Punkt auch mal ein Problem an Nahrungsmittel zu kommen? 

Ja, ja. Es gibt ein sehr grosses Problem mit Wasser und Nahrungsmitteln. Die Städte sind okkupiert, weshalb die Ukraine kein Wasser und kein Essen dorthin bringen kann. Und Russland macht das auch nicht. Das ist ein sehr grosses Problem für die Menschen. Ich kann hier lesen: „Die Leute haben sich wohl daran gewöhnt.“ Ich finde es sehr schlecht, dass sich Menschen an diese Situation gewöhnen müssen. Aber Menschen gewöhnen sich an alles. Die Leute sind sehr stark und es ist schwierig für sie, aber sie gewöhnen sich an alles. Das muss man irgendwie ändern, weil es nicht normal ist, dass es im Land Krieg gibt. 
 
Als ihr dann in der Schweiz ankamt, wo war euer erster Aufenthaltsort? 
Wir sind gleich hier nach Frauenfeld gekommen. Hier sind Freunde, die uns helfen. Wir haben Möbel bekommen und andere Sachen, die wir brauchen. Jetzt haben wir eine sehr schöne Wohnung, in der meine ganze Familie wohnt. 
 
Also ist deine ganze Familie jetzt hier in der Schweiz? Oder sind noch welche in der Ukraine geblieben? 
Ja, meine ganze Familie ist in der Schweiz. Also meine Schwester, mein Bruder, ich, mein Vater und meine Mutter. Mein Vater konnte aus der Ukraine ausreisen, weil er drei Kinder hat, die alle unter 18 Jahre alt sind. Aber wenn wir nicht so viele Kinder wären, dann hätte er nicht aus der Ukraine gehen dürfen.  
 
Wie empfindet ihr das Einleben in der Schweiz? Also gibt es sprachliche Schwierigkeiten und sonstige kulturelle Unterschiede?  
Oh, kulturelle Unterschiede gibt es viele! Aber das ist normal und nicht schlecht. Ich glaube, es ist einfach subjektiv, aber ich denke, in der Ukraine sind die Menschen weniger förmlich. Ich finde es auch sehr schön, dass die Schweiz ein entwickeltes Land ist. Und zu den sprachlichen Problemen: Deutsch und Englisch kann man verbessern und Französisch habe ich gar noch nicht gelernt, aber ich muss damit anfangen, weil viele Sprachen zu können, ist eigentlich sehr gut.  
 
Lernst du auch gerne Sprachen, also interessiert dich das? 
Ich mag eigentlich Mathe und Physik, aber Sprachen lerne ich auch, denn ohne Sprachen geht Mathe auch nicht.  
 
In welcher Klasse bist du jetzt hier an der Kantonsschule? 
Ich bin in der Klasse 1mb. In der Ukraine war ich in der neunten Klasse, also würde ich theoretisch hier ins 2m gehen. Aber aufgrund der neuen Schule und der neuen Sprache muss ich eine Klasse wiederholen. Deswegen bin ich jetzt im 1mb.  
 
Hast du ein Lieblingsfach und gibt es ein Fach, welches du überhaupt nicht magst? 
Ich mag Mathe, ich bin ja auch in ein technisches Lyceum gegangen in der Ukraine. Da haben wir sehr starke Lehrer und ein sehr starkes System, aber da muss man einfach viel lernen. Hier in der Schweiz kann ich Mathe sehr gut verstehen, weil es nicht so schwierig ist wie in der Ukraine. Ich mag hier auch den abwechslungsreichen Unterricht wie zum Beispiel im Sport, weil es ein bisschen interessanter ist und es hier auch gute Lehrer gibt. Wir befassen uns mit vielen verschiedenen Themen. Das finde ich interessant. 
 
Was habt ihr im Sportunterricht in der Ukraine gemacht? 
Es war ein bisschen komisch, weil wir nicht so viele Sachen hatten, um verschiedene Sportarten zu machen. Aber wir haben so Sachen gemacht wie Volleyball oder Fussball. Wir Jungen spielten in jeder Pause draussen Volleyball, was ich sehr mochte.   
 
Was machst du hier in deiner Freizeit? Ist es anders als es in der Ukraine war? 
Ich habe hier nicht so viel Freizeit wie in der Ukraine, weil ich ein bisschen mehr Aufwand für die Schule betreiben muss. Zum Beispiel konnte ich in der Ukraine Biologie in einer Stunde machen, hier muss ich alles übersetzen, was Zeit braucht. Wenn ich Biologie mache, bedeutet das, dass ich zwei Fächer gleichzeitig mache: Biologie und Deutsch. Denn wenn ich lese und Aufgaben löse, muss ich alle Wörter nachschlagen, die ich nicht kenne und dann muss ich diese Wörter auch auswendig lernen. 
 
Sind viele Bekannte von dir in der Ukraine geblieben oder haben die meisten das Land verlassen? 
Ich würde sagen, dass etwa die Hälfte der Leute, die ich kenne, in der Ukraine geblieben sind und die andere Hälfte ist in viele verschiedene Länder geflüchtet. Wir sind hier in der Schweiz, einige sind in Grossbritannien, andere in Amerika und wiederum andere in Spanien. Aber mein bester Freund zum Beispiel ist mit seinem Vater, seinen Brüdern und seiner Mutter in der Ukraine geblieben. Weil seine beiden Brüder über 18 Jahre alt sind, können sie nicht ausreisen. Deshalb könnten nur mein bester Freund und seine Mutter aus der Ukraine gehen, aber das wollen sie nicht. Deshalb wohnen sie weiterhin in Kiew und er geht noch immer ins Lyceum, wo ich auch gewesen bin. Er hat gesagt, dass das ein bisschen schwierig ist, weil sehr oft die Sirenen läuten und alle in den Keller gehen müssen. Aber es geht, es ist schwierig, aber es geht.  
 
Plant ihr, wenn möglich wieder zurückzugehen, oder wollt ihr momentan lieber in der Schweiz bleiben? 
Ich weiss es nicht genau, weil wir die Situation nicht ganz verstehen und verschiedene Sachen passieren könnten. Aber ich hoffe, dass ich hier studieren kann, um eine europäische Ausbildung zu bekommen. Ich weiss noch nicht, was ich später mache. Vielleicht gehe ich zurück in die Ukraine und arbeite dort. In der Ukraine blieben viele Leute, die ich kenne, und ich möchte sie unbedingt wieder treffen. Zum Beispiel mein Freund Alex, meine Grossmutter und mein Grossvater. Auch in Russland leben sehr viele gute Menschen, wie meine anderen Grosseltern und meine Tante. Ich möchte sie wieder sehen, aber das ist echt schwierig aufgrund der momentanen Situation. 
 
Wir haben noch ein anderes Zitat aus dem Tagebuch und würden gerne deine Meinung dazu wissen: 
«Wer einen Krieg überlebt, wird nie wieder sein wie früher. Man kann wieder lernen, sich zu freuen und das Leben zu geniessen, aber anders – immer mit dem Gedanken: Heute ist ein Tag ohne Krieg.» 

Ja, diesem Gedanken stimme ich zu. Der Krieg hat sehr viel verändert. Zum Beispiel habe ich mich bis 2 Uhr in der Nacht für die Biologie Prüfung vorbereitet und dachte das wäre sehr wichtig für mich. Aber als der Krieg gestartet hat, habe ich verstanden, dass es einfach wichtig ist, Wasser zu haben, Lebensmittel zu haben, gute Leute neben mir zu haben. Ja, das Leben ist jetzt ganz anders. 
 
Was hilft dir persönlich, das Erlebte zu verarbeiten? 
Mir hilft es einfach weiterzumachen. Zum Beispiel in die Schule zu gehen oder auch Mundharmonika zu spielen. Das Leben geht einfach weiter, aber jetzt bekommt man diese Möglichkeiten als Schatz. Beispielsweise die Möglichkeit gut zu schlafen, spazieren zu gehen und so weiter. 
 
Gibt es etwas, was du von dieser Situation lernen konntest? 
Man kann sehr viel lernen, wirklich sehr viel. Ich denke, dass man die Geschichte von seinem eigenen Land gut kennen und verstehen sollte. Wenn man sich gut mit der eigenen Regierung auskennt, dann kann man eine gute Regierung wählen und sein Land stärken. 
 
Möchtest du sonst noch etwas sagen? 
Die Ukraine braucht Hilfe. Es ist ein sehr grosser Krieg, der nicht nur das Militär, sondern auch die Menschen in den ruinierten Städten betrifft. 

Das Gespräch führten Naomi Stalder und Leana Oehler (3me)