Die Kanti als Sprungbrett ins Leben

Nach sechs Jahrzehnten sitzen die ehemaligen Schüler der Klasse 7or wieder in einem Schulzimmer der Kanti Frauenfeld. Mit der heutigen 2mz sprechen die Senioren über Kadetten, Kurbelmaschinen und Sophia Loren. Und über eine grosse Frage: Wie gelingt das Leben?

Die Baracke 01 ist Schauplatz eines doppelten Klassentreffens. Die ehemaligen Schüler der Klasse 7or treffen sich selbst – und sie treffen dabei auf Schülerinnen und Schüler der 2mz. Die Senioren haben sich gewünscht, mit einer Klasse von heute ins Gespräch zu kommen. Die 2mz hat zugesagt und berichtet hier vom generationenübergreifenden Austausch: Matura 1963 trifft auf Matura 2027.

Peter Butz: Vom Mikroskop zur Mikrochirurgie

65 Jahre liegen zwischen uns: Die Ehemaligen, die wir im Unterricht von Lukas Dumelin kennenlernen, haben 1963 die Matura gemacht. Wir selbst werden 2027 so weit sein. Die Senioren erzählen uns, wie ihr Schulalltag an der Kanti Frauenfeld ausgesehen hat, was für Fächer sie gehabt und wie sie ihr Leben nach der Matura gestaltet haben. Es ist beeindruckend, wie unterschiedlich ihre Lebenswege ausgefallen sind. Obwohl sie alle ihren eigenen Weg beschritten haben, verbindet sie etwas: Jeder hat auf seine Art die richtigen Entscheidungen getroffen.
Peter Butz zum Beispiel hat Medizin studiert. Nachdem wir uns im Plenum unterhalten haben, frage ich ihn im persönlichen Gespräch, wie es kommt, dass alle aus seiner Klasse einen angesehenen Beruf gelernt haben. Er meint, dass alles eine Sache der Motivation sei. „Wenn man einen Sinn darin sieht, etwas zu tun, dann ist man auch dazu bereit, mehr Aufwand zu betreiben“, sagt er. Er selber wollte eigentlich Physik studieren. „Doch im Biologieunterricht habe ich realisiert, wie viel Spass es mir macht, mich mit Lebewesen zu befassen und mich am Mikroskop in eine neue Welt vertiefen zu können. Darum habe ich mich fürs Medizinstudium entschieden und weiter in Handchirurgie ausgebildet – mit Mikrochirurgie als unverzichtbarer Arbeitstechnik.“
Ich finde es wichtig, dass man zwischen den Generationen im Austausch bleibt. Ich hoffe, dass ich noch viele solche Chancen erhalten werde, denn ich denke, dass man von den älteren Generationen viel lernen kann. Stephanie Eichten

Peter Butz (mit Brille)


Hansruedi Surer: Kopieren mit der Kurbelmaschine

Auch Hansruedi Surer hat 1963 in Frauenfeld die Matura gemacht, dann an der Universität Neuenburg Chemie studiert und im Anschluss doktoriert. Er hat bis zur Pensionierung in der pharmazeutischen Entwicklung gearbeitet, zuletzt bei Novartis. Was kommt ihm in den Sinn, wenn er an seine Schulzeit in Frauenfeld zurückdenkt?
„In Französisch haben wir meistens nur die Ausnahmen geübt und uns eigentlich nur auf die Grammatik konzentriert. Es gab Prüfungen, bei denen man nur die Ausnahmen können musste, und schon hatte man eine 6. Wir hatten nicht wirklich die Möglichkeit, uns auf Französisch auszutauschen, was ich schade fand. Trotzdem kam man damit klar. Ich habe mein Studium dann in der Westschweiz abgeschlossen. Deshalb war das jetzt nicht so ein grosses Problem für mich. 
Wenn ich ehrlich bin, glaube ich, dass vor allem die guten Erinnerungen bleiben. Ich hatte gute Zeiten mit meinen Freunden, und für diese bin ich sehr dankbar. Es ist auch sehr spannend zu sehen, wie sich mit der Zeit alles entwickelt und verändert hat, vor allem mit der Technologie. Zu meiner Zeit konnten wir zum Beispiel nicht so einfach einen Text kopieren. Wir mussten eine Art Kurbelmaschine benutzen, mit dem man den Text vom Originalblatt aufs andere drauf pressen konnte. 
Ich bin mir sicher, dass Sie sich auch so fühlen werden, wenn sie älter werden. Auch bei meinen Töchtern habe ich dies gesehen. Ich habe gemerkt, dass sich einige Sachen verbessert haben, als sie noch zur Schule gegangen sind. Es freut mich, diese Verbesserungen zu sehen.“ Halida Bajrami

Werner Suter: „Ist Geometrie heute noch ein Fach?“

Auch für Werner Suter war die Kanti eine wichtige Station auf dem Lebensweg, der ihn dann von Frauenfeld an die ETH führte. Nach Erhalt des Forstingenieur-Diploms und nach einem Jahr als Unterrichtsassistent hat er bis zur Pensionierung im Jahr 2004 im Kanton St. Gallen gearbeitet, zuletzt als Kantonsoberförster.
„Herr Suter, wie fanden Sie die Zeit an der Kanti?“
„Ich fand es sehr gut und auch speziell. Ich habe viel gelernt, ich habe viele gute Erinnerungen. Es war auch speziell, weil damals die meisten Jungen in ihrem eigenen Dorf geblieben sind, aber ich viel mehr Leute kennenlernen konnte, weil ich an der Kanti war. Einige haben im Konvikt der Kanti übernachtet. Damals hatte man keine guten Verbindungen.“
 „Wie viel mussten Sie damals lernen?“
„Ich kam gut mit und habe deshalb nicht so viel für die Schule gelernt. Wenn man es in Zahlen sagen müsste, würde ich sagen, dass ich normalerweise ungefähr eine Stunde am Tag gelernt habe.“
„Bei mir kommt es auf das Fach darauf an, wie viel ich lerne. Welches Fach haben Sie am schwierigsten gefunden?“
„Ich habe Geometrie sehr schwierig gefunden. Ist das jetzt noch ein Fach?“
„Nein, jetzt gehört es zur Mathematik.“
„Und müssen die jungen Männer heute noch ins Kadettenkorps?“
„Nein, das müssen wir nicht mehr.“
„Dann hat sich das in dem Fall auch geändert. Früher mussten wir immer am Mittwochnachmittag, als die Frauen frei hatten, auf dem Sportplatz mit einem Sportlehrer für das Militär trainieren.“
„Das war sicher sehr streng. Danke, dass Sie sich die Zeit fürs Gespräch genommen haben.“ Gian-Luca Bürgi

Peter Graf: „Ich war das schwarze Schaf“

Auch Peter Graf ist heute 80 Jahre alt und ging in den 60ern in die Kantonsschule Frauenfeld. Er erzählt mir seine verrückte Geschichte: Er musste die Kanti vorzeitig verlassen – und hatte das Maturazeugnis vor seinen Klassenkollegen in der Hand.
„Ein Jahr vor der Matura bin ich von der Kanti geflogen. In der Klasse war ich das schwarze Schaf, ich habe oft über die Stränge geschlagen. Die Lehrer mochten mich nicht besonders, weshalb sie mich oft unfair behandelt haben. Beispielsweise war ich gut in Mathe, doch eines Tages holte mich mein Lehrer nach vorne und bat mich eine schwierige Aufgabe zu lösen. Ich versuchte sie zu lösen, aber konnte es nicht. Daraufhin hat er mir im Zeugnis eine 3 gegeben. Es gab noch viele weitere Kollegen, die wie ich unfair behandelt worden sind. Als ich rausflog, war ich traurig, trotzdem gab ich nicht auf. Ich habe dann 14 Tage vor meinen ehemaligen Mitschülern in St. Gallen die Eidgenössische Matura gemacht. Ich war stolz auf mich – und ich habe ihnen mein Diplom gezeigt: Ich kann auch etwas.“ 
Nach der Matura besuchte Peter Graf das Lehrerseminar Kreuzlingen, um im Anschluss bis zur Pension als Primarlehrer in Salenstein zu arbeiten. Das habe ihn sehr glücklich gemacht. Schwierige Schüler habe er gut verstanden und daher auch gut unterstützen können. Noch heute freut er sich über Rückmeldungen von Schülerinnen und Schüler, die es zu etwas gebracht haben – allen damaligen Prognosen zum Trotz. Riana Andreja 

Peter Graf (in der Mitte)


Roland Heinzer: Mit Sophia Loren in der Luft

Roland Heinzer ist 80 Jahre alt. Er ist am 3. Mai 1944 zur Welt gekommen. Von 1957 bis 1963 hat er das Langzeitgymnasium in Frauenfeld an der Kantonsschule absolviert. Nach der Matura hat er je ein Semester Mathe, Physik und Geographie an der Uni Zürich studiert. Abgeschlossen hat er kein Studium. Der Grund: Er bestand die Aufnahmeprüfung der Schweizerischen Luftverkehrsschule der Swissair (SLS), wo er am 1. April 1966 anfangen konnte. 
Roland Heinzers Traumberuf war Pilot, da ihn schon früh die Segelflugzeuge faszinierten, welche damals auf dem Flugplatz auf der Grossen Allmend in Frauenfeld starteten und landeten. Früher durften junge Buben den Piloten helfen, mit einem Segelflugzeug abzuheben, und er war früher einer von diesen Buben. Zudem las er viele Bücher über ferne Länder. Das liess ihn vom Reisen träumen.
So kam es, dass er ab 1967 bei der Swissair als Co-Pilot und ab 1976 als Captain in die weite Welt fliegen konnte. Jetzt ist er seit knapp 25 Jahren pensioniert. Gern denkt er an die Begegnungen mit unterschiedlichsten Leuten zurück. Er hat auch damals bekannte Schauspieler getroffen, unter anderem Sophia Loren und David Niven.
Heute wohnt Roland Heinzer mit seiner Frau in Kreuzlingen. Er hat zwei Söhne, beide sind verheiratet und haben je eine Tochter und einen Sohn. Roland Heinzer liest und reist noch immer sehr gern. Sein Lebensmotto lautet: „Man sollte sich nicht mit dem Durchschnitt zufrieden geben, sondern ans sich glauben und immer versuchen, das Beste zu geben.“
Mir persönlich hat der Austausch mit den Senioren sehr gut gefallen und ich würde behaupten, den älteren Herren hat der Besuch bei uns auch Freude bereitet. Vivienne Hostettler

Roland Heinzer (ganz links)


Tipps für ein erfolgreiches Leben

Wie gelingt das Leben? Wie erringt man die Zuneigung seiner Kinder? Wie überzeugt man intelligente Menschen? Wie erträgt man falsche Freunde? Wie findet man in anderen das Beste? Das habe ich die Senioren gefragt. 

Tipp 1: Liebe das, was du tust

Einer der meistgenannten Tipps war, Leidenschaft zuzulassen. Es lohne sich, für etwas oder jemanden Feuer und Flamme zu sein, also das zu lieben, was man tut. Man soll die Leidenschaft nicht nur zum Beruf, sondern zur Berufung machen. Auch privat muss die Leidenschaft Platz haben – man soll sich hingeben und starke Emotionen zulassen. 

Tipp 2: Schenke andern deine Aufmerksamkeit

Die Senioren haben Mühe mit der heutigen Hektik, und manchmal vermissen sie den Respekt, gerade auch in der Sprache. Darum kam von einigen der Tipp, darauf zu achten, was man wie zu wem sagt. Apropos Achtsamkeit: Man soll auf sich und alle anderen achten – und dem eigenen Umfeld genug Aufmerksamkeit schenken.

Tipp 3: Entwickle dich beruflich und vor allem auch menschlich weiter

Berufliche Weiterentwicklung sei wichtig. Zentral sei aber auch, sich menschlich weiterzuentwickeln und die eigenen Werte hochzuhalten. Sich einbringen, bescheiden sein, Vertrauen haben – das sei wichtig. Sollte die Konsumblase platzen, in welcher der Mensch heute lebe, wären diese soziale Kompetenzen in hohem Masse wichtig.

Fazit

Gelungen – und damit erfolgreich – ist ein Leben für die Senioren dann, wenn man die Welt ein bisschen besser macht. Es ist offensichtlich: Geld nützt dabei nicht immer etwas. Viel wichtiger ist, Mensch zu sein und menschlich zu bleiben. Lilly Bötschi