Zwischen Filmkulisse und Historie: Die Stadt der Reichsparteitage

REPORTAGE DER STUDIENWOCHE 3ma (I/III): Die Sonne wirft ihre goldenen Strahlen auf die mittelalterlichen Fassaden der Altstadt Nürnbergs. Im Labyrinth von verwinkelten Gassen und malerischen Plätzen, welche Nürnberg prägen, stehen zehntausende Menschen, allesamt in den Himmel blickend. Über ihren Köpfen fliegt ein kleines Motorflugzeug im Landeanflug, in welchem der Führer und Diktator des dritten Reiches sitzt: Adolf Hitler.

So beginnt die „Dokumentation“ „Triumph des Willens“ von Leni Riefenstahl aus dem Jahre 1934. Sie handelt von den jährlichen Reichsparteitagen der NSDAP. Einer Veranstaltung zur Selbstdarstellung; einer Veranstaltung auf einem Gelände, das knapp zehnmal so gross ist wie die Altstadt Nürnbergs und rund fünfmal so gross wie der Central Park in New York; einer Veranstaltung, die propagandistisch ausgeschlachtet wurde, unter anderem mit Hilfe dieses Filmes. Doch wie präsentiert sich die Kulisse des Filmes heute, abseits der Leinwand? Das will ich herausfinden und mache mich deshalb auf den Weg von der Altstadt Nürnbergs bis hin zum Reichsparteitagsgelände.

Diese ersten Szenen des Filmes sind Bilder, die einen unheimlichen Kontrast zur heutigen friedlichen Atmosphäre der Altstadt bilden. Heute spazieren hier Menschen aus aller Welt zwischen den Fachwerkhäusern umher, geniessen die lokale Küche in den gemütlichen Biergärten und bewundern die prächtige gotische Architektur. Noch vor knapp neunzig Jahren fuhren hier jedoch Hitler und seine engsten Verbündeten unter lautem Jubel durch die Strassen. Dies mag vorerst etwas verwunderlich klingen, jedoch scheinen die Menschen, die im Film zu sehen sind, tatsächlich begeistert von Hitlers Auftreten gewesen zu sein. Jeder wollte ihn sehen, ihn grüssen oder gar die Hand schütteln. Es erinnert beinahe ein wenig an die Ankunft eines Fussballstars in der heutigen Zeit.

Hitlers „Reiseziel“ war das Reichsparteitagsgelände, welches etwas ausserhalb von Nürnbergs Altstadt liegt. Auch mein Weg führt dorthin, weshalb ich mit der Strassenbahn zum Dokumentationszentrum des Geländes fahre. Das Zentrum ist eingebaut in ein altes Nazi-Bauwerk: die Kongresshalle. Sie wurde nie fertiggestellt, weshalb heute die Hälfte der ursprünglich geplanten Höhe und das ganze Dach des Gebäudes fehlt. Die Aussenwände der Halle bestehen aus massiven Granitblöcken und exakt angeordneten Blendbögen. Die Bauweise und Form des Gebäudes erinnern mich ein wenig an das Kolosseum in Rom. Wie sich später herausstellt war genau dies der Plan der Nationalsozialisten. Die Halle sollte die Macht Hitlers und die Ewigkeit des Dritten Reiches repräsentieren. Wenn man bedenkt, dass das Kolosseum bereits etwa 2000 Jahre alt ist und immer noch Teile davon vorhanden sind, leuchtet diese Aussage durchaus ein. Schaut man vom Innenhof der Halle um sich, so blickt man rundherum an eine rote Wand aus Backstein. „Die sind günstiger als die Granitsteine“, erzählt uns Torsten, der Guide, welcher uns auf dem Gelände herumführt. „Von aussen musste das Gelände die Macht Hitlers repräsentieren. Dort wurde nicht gespart. Aber bei Flächen, die man nicht sieht, wurden die Ausgaben möglichst klein gehalten.“

Nachdem wir die Halle fertig besichtigt haben, spazieren wir weiter in Richtung «Grosse Strasse». Auf dem Weg dorthin drehe ich mich noch einmal um und schaue zurück. Obwohl die Halle sehr schlicht und erst zur Hälfte fertig gebaut ist, strahlt sie selbst aus dieser Distanz eine unglaubliche Aura der Macht und Disziplin aus. Und sie ist erst das erste von vielen Bauwerken dieser Art. Auf der grossen Strasse, für welche ursprünglich eine Länge von zwei Kilometern geplant war, findet während meines Aufenthaltes gerade ein Festival statt. Allein diese Gegebenheit reicht aus, um erkennen zu können, dass es sich dabei nicht um eine normale Hauptstrasse handelt. Die knapp 60 Meter breite und 1.5 Kilometer lange Strasse entstand zur selben Zeit wie die Halle, unter der Leitung des Architekten Albert Speer. Sie besteht aus massiven Granitplatten mit einer rauen Oberfläche, um den Soldaten den Marsch mit den Kampfstiefeln zu erleichtern. Hitlers Überlegungen für das gesamte Gelände sind überwältigend. Die Platten seien genau so gross, dass zwei „Marschschritte“ darauf gemacht werden können, erzählt uns Torsten, während wir über die riesige Fläche gehen. Ich probiere es aus. Tatsächlich komme ich nach zwei Schritten direkt vor der nächsten Platte zum Stehen. Stellt man sich nun vor, dass dies Tausende von Soldaten gleichzeitig tun, entsteht vor dem inneren Auge ein Bild, welches im Film von Riefenstahl etliche Male vorkommt: Junge Soldaten, welche in fast schon künstlichem Gleichschritt über das Gelände marschieren, allesamt deutsch.

Torsten führt uns weiter der Strasse entlang in Richtung der Zeppelintribüne. Es ist das einzig fertiggestellte Bauwerk, welches heute noch teilweise erhalten ist. Beim Anblick der Rednertribüne am Rand des Platzes bin ich beeindruckt. Ein so schlichter Bau, bestehend aus einer Tribüne, einer Rednerplattform und einigen Treppen trägt so viel Geschichte in sich. In einer Szene des Filmes wird diese Vergangenheit gezeigt: Hitler steht auf der Rednerplattform, hinter ihm seine engsten Verbündeten, vor ihm ein Aufmarsch der Armee bestehend aus mehr als 200‘000 Soldaten. Sich das vorzustellen, während man selbst auf der Tribüne steht, geht auf jeden Fall nah. Die Fahnen und Banner, Nazisymbole und Scheinwerfer, welche während der Nazizeit das gesamte Feld prägten, gibt es nicht mehr. Sie wurden nach dem Krieg von den Amerikanern vernichtet und sind heute Teil der Geschichte. Man wollte den Nationalsozialismus begraben und nie wieder etwas davon hören. Im Film von Riefenstahl wurden auch Bilder des Luitpoldhains gezeigt, einem Ort, welcher während des Krieges fast vollständig zerstört wurde. Auch hier fanden Aufmärsche und Reden statt, welche in der Dokumentation durch die bewusst ausgewählten Kameraeinstellungen besonders zur Geltung kommen. Möglichst gross, möglichst mächtig und möglichst endlos wurden die Gebäude und Felder dargestellt. Auch dies lässt sich beim Blick von der Tribüne erfahren.

Mit all diesen eindrücklichen und für mich neuen Informationen und Erlebnissen kehre ich am Ende des Tages in die Jugi in der Kaiserburg zurück. Von dort kann ich über die Stadt hinweg das Reichsparteitagsgelände sehen. Während ich einen letzten Blick dahin schweifen lasse, kreuzt über mir ein Flugzeug den Nachthimmel. Doch kaum ein Passagier darin wird nach der Ankunft unter lautem Jubel durch eine Altstadt fahren, und eine ganze Generation durch Propagandaveranstaltungen und Armeeaufmärsche täuschen. Oder?

Text von Merlyn Ausderau, 3ma