Ich lebe in Moll und weine in Dur. Manchmal macht es keinen Sinn und die Welt dreht sich rückwärts. Wenn das „Ich liebe dich“ nicht mehr zurückkommt. Wenn die Nacht vor dem Tag steht. Tagsüber träume ich von dir und nachts sitze ich stundenlang wach und schiebe die Gedanken an dich beiseite. Wenn das Ziel vor dem Weg ist und ich den ganzen Weg bis zum Anfang laufe. Und wenn ich zuerst an gestern denke, dann an morgen und am Ende erst merke, dass ich hier und jetzt im Chaos versinke. Kann jemand die Welt wieder richtig herumdrehen?
Mit frischen Blumen stürmte ich in die Notaufnahme und es schien, als würde sich alles in Zeitlupe abspielen. Als ich in die starren, eisblauen Augen des Arztes blickte, wusste ich schon, dass es vorbei war. Das Leben meiner Frau war zu Ende.
Kurz darauf wurde es Frühling und Zürich wurde zum schrecklichsten Platz der Welt. Ich hatte das Gefühl, in einem grauen Meer aus Beton zu versinken, das jede Freude verschluckt hatte. Zitternd und allein sass ich am Fenster meiner Altbauwohnung, in der Hoffnung auf andere Gedanken zu kommen. Bei geöffnetem Fenster hörte ich die Vögel fröhlich zwitschern und empfand es als Affront gegenüber meinem inneren Leiden. Es schien, als würde mir nichts anderes übrigbleiben als diese Einsamkeit auszusitzen bis der Herbst kommen würde. Oder noch besser der Winter mit meterhohem Schnee, damit ich keinen Grund hatte nach draussen zu gehen.
Es gab nichts anderes mehr in meiner Welt als mich und das Tagebuch meiner Frau, das sie geschrieben hatte, als sie noch lebte. Wir wussten, dass sie bald nicht mehr bei mir sein würde, jedoch kann man sich auf diesen Moment nicht vorbereiten. Während ihrer Zeit im Krankenhaus schrieb sie immer in ihr Tagebuch, damit ich es später lesen kann und mich nicht ganz so alleine in dieser Welt fühle. Meine grösste Angst war, ich könnte etwas, was sie gemacht oder gesagt hatte vergessen. Was, wenn ich mich eines Tages nicht mehr an sie erinnern kann?
Als ich eines regnerischen abends ihr Tagebuch zurück in das Regal stellen wollte, fiel ein Buch aus dem Regal und landete geöffnet vor meinen Füssen. Es war verstaubt und die Buchseiten waren vergilbt. Ich hob es auf und darin fand ich lauter alte Bilder aus der Toskana, unserer früheren Heimat. Es liess mich daran erinnern, wie wir in die Schweiz gekommen waren und es gerade Sommer geworden war. Zürich war für uns der schönste Platz auf Erden gewesen. Wir hatten das Gefühl im Mittelpunkt der Welt zu stehen, dort wo sich endlich etwas bewegte. Nichts konnte uns mehr trennen und wir bewegten uns mit.
Eine einzelne Träne kullerte meine Wange hinunter und ich fühlte diese schreckliche Leere in mir. Das Zürich meiner Jugend war vergangen.
Beim zweiten Blick auf die alten Bilder kam mir die Idee, dass ich wieder in die Toskana zurückgehen könnte. Ich konnte den Gedanken an die Sonne auf meiner Haut und an den Duft des Kaffees nicht mehr beiseiteschieben. Ich sass die ganze Nacht wach und überlegte, ob ich wirklich alles zurücklassen und alles erneut hinter mir lassen sollte. Nur diesmal war ich allein und ich hatte niemanden, falls etwas schief gehen würde. Ich suchte im Tagebuch meiner Frau nach einer Antwort, bis ich schliesslich diesen Eintrag fand:
Langsam glaube ich, dass Erwachsensein eine konzipierte Lüge ist. Als Kind denkt man immer, dass Erwachsene diejenigen sind, die eine Ahnung von allem haben. Eigentlich sind es nur Menschen, die irgendwann gelernt haben, so zu tun als wüssten sie, wie das Leben funktioniert. „Fake it t’ill you make it“. Eigentlich weiss niemand so genau wie man eine Steuererklärung schreibt. Aber als Erwachsener stellt man keine Fragen mehr. Man macht einfach etwas. Das heisst erwachsen zu sein.
Man macht also einfach etwas und ich beschloss genau das zu tun. Deshalb packte ich die wichtigsten Sachen in meinen Koffer, kaufte ein Zugticket nach Livorno und zuletzt engagierte ich einen Makler, um meine Wohnung zu verkaufen. Der letzte Schritt war eindeutig der Schwerste, für mich zumindest, denn eine Wohnung in Zürich ist schnell weg. Es war schwer sich von dieser Wohnung zu trennen, weil ich so viele schöne Erinnerungen mit ihr verband. Aber es war an der Zeit, dass ich wieder neu anfangen konnte, an einem neuen Ort, mit neuen Freunden.
Mein Zug ging sehr früh am Morgen und als ich am Bahnhof „Livorno Centrale“ ankam, war es bereits späterer Nachmittag. Ich setzte mich in ein Kaffee, das in einer kleinen Nebenstrasse der Altstadt lag. Umgeben von alten Backsteinmauern und Pflanzen, die daran hochwuchsen, trank ich seit Jahren mal wieder einen richtigen Espresso. Ich genoss die warme Abendsonne, als ich kurze Zeit später durch die Altstadt in mein kleines Appartement spazierte. Es hat einen kleinen Balkon und alles darin ist sehr klein. Aber ich habe hier alles, was ich brauche. Es fühlt sich an, wie früher als wir zusammen in Italien lebten. Als wir jeden Abend einen Sonnenuntergangsspaziergang machten und auf den Strassen tanzten, bis die Restaurants schlossen. Ich hatte das Gefühl wieder atmen zu können.
Aber als ich Tag ein Tag aus mein neues Leben in Italien genoss, vergass ich die Momente mit meiner Frau. Manchmal vergass ich, wo ich gerade war und welche Zeit gerade war. Meine neuen Freunde erinnerten mich dann daran, aber ich fühlte mich verloren. An manchen Tagen nahm ich ihr Tagebuch zur Hand und ich wusste nicht, wer es geschrieben hatte.
Eines Tages ging ich an einer Parfümerie vorbei und bereits als winzige Partikel gerade erst meine Sinneszellen erreicht hatten, erkannte ich ihr Parfum. Ich erkannte sie und erinnerte mich an sie. Der Geruch durchströmte meinen Körper, erfüllte mich und eine Geborgenheit überkam mich, die ich seit jenen Tagen nicht mehr erfahren hatte. Da sah ich sie vor mir, scharf und detailliert. Im Duft lag ihre sanfte Stimme, die andere oft als „zu leise“ und „schüchtern“ bezeichnet hatten. Mochte sie auch im Trubel der Masse untergehen war sie für mich immer sichtbar. Das waren die letzten klaren Erinnerungen an meine Frau. Danach verschwanden sie immer mehr und meine Angst wurde zur Gewissheit, dass ich dasselbe Schicksal wie sie erleiden und mich eines Tages an nichts mehr erinnern würde.
Text und Bild: Natalie Jenni, 2ma