pause: Robin Fürst, was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie im Herbst 2022 zum ersten Mal ChatGPT benutzt haben?
Robin Fürst: Das ist eine Zäsur, ein Paradigmenwechsel.
Inwiefern?
Computerlinguisten haben mir während des Studiums gesagt, dass wir bald mit Geräten reden können. Ich hab’s nicht geglaubt, und nun können wir’s. Wir kommunizieren mit Informationen im Internet, die Chatform wird nur eine Übergangslösung sein. Seit drei Monaten suche ich im Netz nur noch mit der KI-Suchmaschine Perplexity. Sie liefert mir Gründe für einen Konflikt oder für den Kursanstieg von Krypto-Währungen. Das ist eine ruhigere Form des Internets: keine Werbung – und auf meine Bedürfnisse ausgerichtet.
Das klingt fast zu schön: Informationen decken uns dank der KI nicht mehr zu, sondern wir können gezielt nach ihnen suchen.
Ja. KI ist eine neue Art «Schmieri». Mit einer allgemein gescheiten KI braucht der Kühlschrank keine eigene Software mehr, um Ein- und Ausgänge zu kontrollieren und Bestellungen zu tätigen. Die KI kann den Job übernehmen. KI ist wie ein Kabelbinder oder das Schmiermittel WD-40: Sie übernimmt eine Gelenkfunktion.
Stichwort «gescheit»: Sind KI-Systeme wirklich intelligent?
Die kurze Antwort ist: Tools wie ChatGPT zeigen Symptome von Intelligenz.
Und die längere?
Es sind neuronale Netzwerke, die sich an der Infoverarbeitung in unserem Hirn orientieren. Diese Netzwerke führen zu schlaueren Outputs als Computerchips. Es geht immer um emergente Effekte, um Übersummativität: Das Ganze ist mehr als die Summe aller Einzelteile. Es ist wie bei einem tollen Film, der mehr ist als Drehbuch, Musik und Leistung der Schauspieler zusammen. Bei KI-Systemen scheint es manchmal zufällig, wie etwas zustande gekommen ist. Die Tools sollen aber gewisse Sachen können, die nicht vorgesehen sind. Das ist Mimikry von Intelligenz, Mimikry von unserem Hirn. Darum würde ich sagen: Ja, diese Systeme verfügen in gewissem Sinn über Intelligenz.
KI stellt die Frage, was in der Schule noch gelehrt und gelernt werden soll – und was wie geprüft wird. Sind Tests, die auf Wissensreproduktion setzen, bald obsolet?
Die Frage ist eine andere. Mit Blick auf die Kompetenzorientierung diskutieren wir bereits, was zeitgemäss ist. Auch ohne KI gibt es eine Verschiebung von summativem zu formativem Prüfen und Bewerten, d.h. von Prüfungen am Ende einer Lerneinheit hin zur Beurteilung von Lernprozess und Lernfortschritt. Prozesse stehen also immer öfter im Zentrum. Und da kommt KI ins Spiel: KI-Tutoring ermöglicht ein individuelleres Coaching.
Wie?
Mit KI-Tutoring. Wenn ein Schüler eine Mathematik-Aufgabe falsch löst, kann die KI dies beobachten und Denkfehler eruieren. Angeleitet durch feine Hinweise und geschicktes Nachfragen merkt der Schüler selbst, wo er Fehler gemacht hat. Das ist pädagogisches Gold. Im kleinen Rahmen geschieht das schon: ChatGPT löst Hausaufgaben und ist ein erschwinglicher Nachhilfelehrer. Es braucht einfach gute Prompts.
Was ist ein guter Prompt?
Ein mehrfach erprobter Prompt, einer, an dem man gewerkelt und geschliffen hat. Wer KI wirklich nutzen will, muss produktiv mit Fehlern umgehen können. Wenn eine Antwort von ChatGPT nicht zufriedenstellend ist, sollte man die Ursache zunächst in der Formulierung der Frage suche – also im Prompt selbst.
Wie werden sich die Lehr- und Lernformen im KI-Zeitalter verändern?
Die Individualisierung wird wichtiger, auch dank der Tutoring-Technologie. Andererseits dürfen wir uns nicht nur mit Maschinen beschäftigen. Darum werden Arbeiten im Team und gemeinsame Erfahrungen ebenfalls wichtiger. Als Lehrperson wünsche ich mir, dass ich dank KI mehr Zeit habe, individueller auf Schülerinnen und Schüler einzugehen und so das Zwischenmenschliche stärker in den Vordergrund zu stellen.
Und was ist mit den klassischen Prüfungen?
Angesichts der Individualisierung werden klassische Prüfungen zunehmend weniger sinnvoll. Es wird aber nicht obsolet werden, etwas auswendig zu lernen. Wir müssen etwas über die Welt wissen, um sie genauer verstehen zu wollen – und zu können. Wenn ich im Unterricht merke, dass Wortmeldungen von Schülerinnen und Schüler von der KI kommen, sage ich: Alle Geräte zuklappen, jetzt müssen wir selber denken.
Italien will an Schulen Smartphones und Tablets verbieten, in Schweden erhält jede Schule eine Bibliothek mit gedruckten Büchern.
Das Problem sind nicht die Geräte an sich, sondern dass wir als Gesellschaft zugelassen haben, dass sie so süchtig machen dürfen. Schade, dass wir in der Pädagogik nicht mit denselben Tricks arbeiten wie Big Tech; hier könnte man das Suchtpotenzial sinnvoll einsetzen. (lacht) Der Trend, die Digitalisierung zurückzuschrauben, hat mit der Überforderung der Gesellschaft zu tun. Wir alle haben das Handy fast immer und fast überall in der Hand. Immerhin haben wir erkannt, dass das suboptimal ist.
Worin besteht die grösste Gefahr?
Dass die KI zu unserem persönlichen Begleiter wird, scheint unausweichlich. Wenn die KI, die uns künftig wohl ständig begleitet, nicht mehr nur als unser Kopilot dient, sondern als Autopilot, wenn aus Unterstützen und Anleiten quasi ein Steuern wird, dann wird’s problematisch.
Wir wären noch stärker abgelenkt, ja absorbiert, abgekapselt.
Die Geräte sind grundsätzlich mit zu viel Ablenkung verbunden. Auch in der Schule dient das iPad zum Surfen und Gamen, und Jugendliche kommen so mit Themen zu Sexualität in Kontakt. Es ist ein Gerät für alles, jederzeit. Das ist das Hauptproblem. Dafür gäbe es eine technische Lösung: focus devices. Der Kindle ist so eines: Man kann nur lesen. Wenn du auf dem Handy etwas liest, driftest du schnell ab.
Schulen müssten also focus devices anschaffen?
Ja und nein. Wir hätten in der Schweiz vermutlich genug Geld. Aber ökologisch wäre das nicht sinnvoll, für alles ein Gerät zu haben. Wir könnten beim User-Interface mehr machen. Es gibt Apps, die dafür sorgen, dass wir möglichst wenig abgelenkt werden. Auf Schülergeräten könnte es einen Modus geben, der alle Ablenkung ausschaltet.
Was läuft falsch?
Warum arbeiten IT-Konzerne nicht stärker mit Bildungsforscherinnen und -forschern zusammen? Es ist unglaublich teuer, wenn jeder Kanton und jede Schule solche Probleme selber angehen muss. Und was ist mit der Umwelt? Warum gibt es keinen Computer, der sich ans Fairphone anlehnt? Keinen Fairlaptop, kein Fairtablet? Wenn etwas kaputt ginge, könnten Schüler das selber reparieren und etwas über die Komponenten lernen. Hier ist die Politik gefordert. Wenn einige Länder gemeinsam Forderungen aufstellen, ändert sich vielleicht auf Herstellerseite etwas.
Sollten Schulen als Zwischenlösung digitale Arbeitsgeräte zur Verfügung stellen?
Der grösste Vorteil wäre, dass die Lehrperson auf Knopfdruck nur noch Word zulassen könnte. Aber ich bin zwiegespalten. Wir sind schnell im Bereich dystopischer Orwell’scher Machtfantasien, das ist unvereinbar mit der Überzeugung, dass sich Kinder und Jugendliche in und durch Freiheit entwickeln.
Welche Kompetenzen braucht’s im KI-Zeitalter umso mehr?
Die wichtigste Kompetenz im Zusammenhang mit KI-Nutzung ist die game literacy. Wer von Games – wie z.B. von Minecraft – eine Ahnung hat, kann besser mit KI umgehen.
Was meinen Sie damit?
Ich habe nicht nur gern gelesen, sondern auch immer gern gegamet. Dadurch habe ich eine fluidere Interaktionskompetenz. Ich finde mich schneller zurecht in neuen Welten.
Warum?
Scheitern gehört bei Videospielen dazu. Man stirbt immer wieder. Man gumpt hier runter und dann da, vielleicht ist der Schatz ja dort. Diese Neugier, dieses Ausprobierenwollen ist wichtig. Gerade beim Prompten muss man immer wieder neue Zugänge suchen. Mehr als die Hälfte meiner Versuche beim Prompten scheitern. Als Gamer kenne ich das Scheitern, und ich überlege mir, welche Wege es sonst noch geben könnte.
Wie und in welchen Fächern kann game literacy an der Mittelschule konkret gefördert werden?
Im Rahmenlehrplanentwurf wird explizit das Fach Deutsch erwähnt: «Die Maturandinnen und Maturanden können literarische Werke (Epik, Lyrik, Dramatik; aber auch andere Kunstformen wie Film und Games) als gestaltete Kunstwerke wahrnehmen.» Aber auch andere Fächer könnten Zugänge bieten, z.B. mit Serious Games, also Lehrspielen mit einer pädagogischen Absicht, oder mit Gamification. Damit ist Anwendung von Spielmechanismen in spielfremden Kontexten gemeint. Aber solche Bemühungen werden nur fruchten, wenn die Lehrpersonen ihre konfusen Ängste gegenüber dem Medium ablegen und ihm neugierig begegnen.
Vorurteile gegen das Gamen hört man nach wie vor häufig.
Wenn ich damit konfrontiert werde, frage ich: Spielst du auch? Die Antwort ist meistens nein, und ich frage dann: Wie sinnvoll ist es, mit einem Analphabeten über Goethes Faust zu sprechen? Trotzdem, es gibt Kids, die süchtig werden. Viele Mobile- und Tabletgames sind so konstruiert, dass sie süchtig machen. Aber Game ist nicht gleich Game, und viele merken, dass man Videospiele nicht per se verteufeln soll.
Welche Folgen hat KI auf das kreative Schaffen an einer Mittelschule?
Positive! Fürs Ideen-Sparring ist es genial. Schau, hier habe ich eine Skizze, was könnte ich besser machen? Oder: Ich habe ein Romankapitel in Ich-Erzählerform geschrieben. Kannst du das in eine auktoriale Erzählhaltung übertragen? Gleichzeitig steigt auch das Bedürfnis, selber etwas zu machen: selber zu malen, ein Instrument zu spielen.
Wie sollen Lehrpersonen auf all diese Veränderungen reagieren?
Neugierig sein und ausprobieren. Die Gratisversion reicht nicht. Man braucht leistungsfähigere, d.h. kostenpflichtige Modelle. Und eine Anleitung, z.B. im Rahmen eines Prompt-Engineering-Crashkurses. Wichtig ist, jetzt einzusteigen. Die KI-Technologie befindet sich im exponentiellen Wachstum. Da geschieht etwas Gewaltiges, da kommt etwas Riesiges auf uns zu. Sobald man sich damit auseinandersetzt, weichen die Ängste. Es ist ein Mythos, dass unsere Schülerinnen und Schüler digital natives sind. Sie können swipen, scrollen, Apps installieren, ja. Aber wir Lehrpersonen haben keinen Nachteil ihnen gegenüber. Wir können gut zusammen diese neue Welt entdecken.
Welches war bisher Ihr tollster KI-Moment?
Ich arbeite häufig mit Rollen-Prompting. Ich bitte die KI, literarische Figuren zu spielen. ChatGPT3 ist noch an Schillers «Die Verschwörung des Fiesco zu Genua» gescheitert. ChatGPT4 hat Schillers Stil gut nachgeahmt, inhaltlich war’s extrem präzis. Die Rolle hat das neue Programm textimmanent gestaltet. Das war ein Wow-Moment: Was ist hier innerhalb von einem Jahr passiert? Was kommt da auf uns zu?
Aber eben: Ohne gute Prompts geht’s nicht.
Prompting ist wie zaubern lernen. Es dauert, bis du den richtigen Zauberspruch gefunden hast. Aber plötzlich kommt eine supergute Idee. Dann ist es wie bei Eichendorff: «Die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort.»
Das Gespräch führte Lukas Dumelin. Bilder: zVg
ZUR PERSON
Robin Fürst (43) ist KI-Experte, Medienpädagoge und Deutschlehrer an der Kantonsschule Zürich Unterland (KZU) in Bülach. Er bietet Weiterbildungen an zu KI-Sprachtools und Prompting im Zusammenhang mit Literatur und Unterricht, u.a. am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich.