In einer einleitenden Präsentation erläuterte Botschafter Nesser, weshalb sich Schweden trotz einer ebenfalls langen Tradition von Neutralität und Blockfreiheit in den 1990er-Jahren im Gegensatz zur Schweiz der EU anschloss - notabene nach einer Volksabstimmung - und jüngst unter dem Eindruck des Ukrainekrieges sogar der NATO. 2023 übernahm Schweden im ersten Halbjahr letztmals den Ratsvorsitz der EU und gleiste dort unter dem Titel «Fit for 55» ein umfassendes Klimapaket auf, welches die Emissionen bis 2030 im ganzen EU-Raum um 55% senken soll.
Kurz ging Botschafter Nesser auch auf die schwedisch-schweizerischen Beziehungen ein, die auf eine über einhundertjährige Geschichte zurückblicken und ihm Diplomatenjargon als «ausgezeichnet» taxiert werden dürfen. Traditionell gross seien die wirtschaftlichen Verflechtungen. Marken wie H&M, IKEA, ABB und Tetra Pak sind uns allen ein Begriff und geniessen einen guten Ruf, was umgekehrt auch für Schweizer Produkte in Schweden gilt, namentlich in den Bereichen Pharmazie und Elektronik. Auch der Wintersport verbinde die beiden Länder. Während die Schweiz mit ihren höheren Bergen im Alpinbereich klar in Führung gehe, gleiche Schweden, wie der Botschafter gerne und mehrfach betonte, im Eishockey aus und exportiere auch fleissig Eishockeyspieler in die Schweiz.
Der Zielsetzung des Anlasses folgend, ging es im Podiumsgespräch unter Leitung des Geschichtslehrers Urban Schertenleib dann weniger um sportliche Aspekte. Nacheinander wurden die nicht wenigen politischen Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft besprochen. Mit der sprichwörtlichen nordischen Gelassenheit, einer Prise Humor und viel diplomatischem Geschick bespielte Herr Nesser gekonnt die Bühne der Kanti Frauenfeld und beantwortete auch die brisantesten Fragen der Schülerinnen und Schüler elegant und gleichwohl klar und umfassend. Erörtert wurde ein bunter Strauss von Themen: die migrationsbedingte Bandenkriminalität in den schwedischen Vorstädten, das derzeitige Schwächeln der schwedischen Krone trotz florierender Exporte, Schwedens NATO-Beitritt vor dem Hintergrund der türkischen Einwände, die schwedisch-schweizerische Kooperation in der Friedensmission auf der explosiven koreanischen Halbinsel, die EU-Politik im Ukrainekrieg und der Umgang mit den russischen Oligarchengeldern.
Ein Schwerpunktthema waren die Beziehungen der Schweiz zur EU und die schwedische Haltung zur «schwierigen Partnerin» Schweiz. Botschafter Nesser gab sich hierzu angetan von der Schweiz und insbesondere von unserem «Mission Impossible Man», Aussenminister Ignazio Cassis. Man sei diesen Frühling positiv überrascht worden vom Willen des Bundesrates, nach dem Scheitern des Rahmenabkommens mit viel Transparenz und neuen Ansätzen - beispielsweise beim Strommarkt - nach Auswegen aus der Sackgasse zu suchen. Aufgrund der Lernprozesse, die rund um das Scheitern des Rahmenabkommens stattgefunden hätten, gibt er einem noch zu schnürenden Paket «Bilaterale Abkommen 3» gute Chancen. Der Zeitpunkt für diesen hoffnungsvollen Ausblick war meteorologisch gut gewählt: Just in diesem Augenblick fielen vorübergehend Sonnenstrahlen in die Aula der Kanti.
Wo denn auf der anderen Seite Schweden von der Schweiz noch etwas dazulernen könnte, wurde Botschafter Nesser gefragt. Bei der Integration und Platzierung der Flüchtlinge leiste die Schweiz mustergültige Vorarbeit, die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen verhindere in der Schweiz eine konfliktive Konzentration in vorstädtischen Quartieren, wie dies in Schweden lange der Fall gewesen sei. Auch bei der Durchführung von Referenden könne Schweden noch dazulernen, seien doch die Volksmehrheiten der allerdings rein konsultativ durchgeführten Volksbefragungen von der schwedischen Regierung nicht immer berücksichtigt worden, beispielsweise bei der Umstellung von Links- auf Rechtsverkehr im Jahr 1963.
Den Joker zog Botschafter Nesser abschliessend bei der Frage, ob er der Schweiz den NATO-Beitritt anraten würde. Hier gab er sich «diplomatisch» und verwies darauf, dass Ratschläge von aussen selten gut ankämen und die Schweizer Neutralität auch wichtige internationale Funktionen habe. Die im Juni in der Schweiz geplante Friedenskonferenz zur Ukraine sei nur ein Beleg dafür. Beim Ausblick auf die schwierige Konfliktlösung in der Ukraine verzog sich die Sonne dann wieder hinter dicke Wolken.
Text: Michael Jung