Ende Juni besuchten Jasmin und Sabi, zwei Mitgliedern des Vereins «Löwenzahnkinder», die Klasse 1i im Rahmen des Deutschunterrichts. Die Klasse hatte sich zuvor intensiv mit dem Bestseller «Platzspitzbaby» (2013, Wörterseh-Verlag) beschäftigt, der 2020 verfilmt und vom Schweizerischen Verband der Filmjournalistinnen und Filmjournalisten zum besten Film des Jahres gewählt worden war.
Michelle Halbheer, die ihre Geschichte in «Platzspitzbaby» erzählt, gab mit der Veröffentlichung den Kindern suchterkrankter Eltern eine Stimme. Denn die offene Drogenszene der Platzspitz- und Letten-Generation bedeutete nicht nur grosses Leid für die Betroffenen selbst, sondern auch für deren Kinder. Leider ist die Zahl der Kinder, die in solch prekären Verhältnissen leben, auch heute noch erschreckend hoch.
Jasmin und Sabi berichteten der Klasse ehrlich und offen von ihrem Aufwachsen. «Als ich noch ganz klein war, lebten wir wie eine richtige «Bünzli»-Familie. Wir hatten es schön. Mit den Drogen hielt dann aber das Elend Einzug in meine Familie», erzählte Jasmin. Mit sechs Jahren wurde sie ihren Eltern weggenommen und in ein Kinderheim gebracht. Ein Segen – so könnte man meinen, doch der Horror fand kein Ende: Jasmin und ihr Bruder erlebten im Kinderheim Schreckliches. Körperstrafen und Lieblosigkeit waren an der Tagesordnung. Jasmin erzählte der Klasse von dieser furchtbaren Zeit aber mit grosser Stärke. Die Frage eines Schülers nach dem, was ihr Kraft gegeben habe, beantwortete sie so: «Ich habe immer die Verantwortung für die ganze Familie übernommen. Ich dachte: ‹Wenn ich auch noch abstürze, bleibt von unserer Familie nichts mehr› . Ich habe auch Seich gemacht als Jugendliche, Grenzen ausgetestet, aber ich wollte etwas erreichen.» Das hat Jasmin geschafft. Heute ist sie selbständige Podologin und engagiert sich im Verein «Löwenzahnkinder».
Als ihre wahre Familie bezeichnet sie jedoch vor allem ihre Freunde. Zu ihrem Vater, der mittlerweile keine harten Drogen mehr konsumiert, hat Jasmin regelmässig Kontakt. Der Kontakt zur Mutter hingegen besteht seit einigen Jahren nicht mehr. Die Geschichte dahinter: Die Mutter wurde nochmals schwanger, als Jasmin eine Jugendliche war. Sie unterstützte die immer noch drogenabhängige Mutter mit ihrem Lehrlingslohn und tat, was sie konnte, um dem jüngsten Geschwister ein besseres Leben zu ermöglichen. Und so rang sie sich zu einer Gefährdungsmeldung durch – die kleine Schwester musste nicht wie sie ins Heim, sondern wurde bei einer Pflegefamilie platziert. Zu ihrem Bruder hat Jasmin nur noch sporadisch Kontakt, auch er rutschte in die Drogensucht ab. Darum distanzierte sie sich schweren Herzens von dem Menschen, der in der schrecklichsten Zeit ihres Lebens im Kinderheim immer an ihrer Seite gewesen war. Doch Jasmin hat gelernt, dass sie die Verantwortung, die ihr so früh aufgebürdet wurde, abgeben soll und darf. Sie lebt nun ihr eigenes Leben und ermutigt Jugendliche, ihre Träume zu verwirklichen. Im Verein setzt sie sich mit den anderen Mitgliedern dafür ein, dass die Kinder suchterkrankter Eltern ins Gedächtnis der Gesellschaft gerufen werden.
Bewegend ist auch Sabis Geschichte. Ihr Vater war Alkoholiker und starb jung. Trotz seiner Sucht hatte sie zu ihm jedoch eine bessere Beziehung als zu ihrer Mutter, die zwar nicht süchtig war, aber ihrer Tochter keine Liebe gab. Sabi selbst ist früh Mutter geworden und berichtete der Klasse mit leuchtenden Augen von ihrem Sohn. Auch Sabi hat ihren Weg gemacht und nach schwierigen Jugendjahren als Erwachsene eine Ausbildung abgeschlossen. Sie bezeichnete ihren Vater im Gespräch mit der Klasse auch als «Löwenzahnkind», da die Suchtproblematik schon in den vorangehenden Generationen Thema in ihrer Familie gewesen sei. Das komme leider häufiger vor, als man denke.
Trotz aller Schicksalsschläge haben Jasmin und Sabi die Hoffnung nicht aufgegeben und sind bereit, ihre Geschichte mit anderen zu teilen, um andere Betroffene zu stärken. Das widerspiegelt sich auch in der Bezeichnung «Löwenzahnkinder»: «Wir haben diesen Vereinsnamen ausgesucht, weil dieses Bild ausdrückt, wer wir sind: Wir sind wie der Löwenzahn, der es schafft, den Asphalt zu durchdringen und trotz aller Widerstände zu blühen.» Vor solche einer Einstellung und einem solchen Lebens-Ja muss man den Hut ziehen.
Autorin: Andrea Möckli
Link zum Verein: https://www.loewenzahnkinder.com/
Artikel aus dem Landbote, 28. Juni 2023: